Bewerbungsgespräche sind nur Show. Die eine Seite des Tisches performt, die andere bewertet. Dieser Tanz folgt seit Jahren dem immer gleichen Muster. Wie zielführend ist das eigentlich?
Es ist 13 Uhr 58. Ich sitze in einem grauen Flur ohne Fenster neben einem noch graueren Riesenkopierer. Mir ist heiß. Draußen sind 24 Grad und ich trage eine lange Hose und eine komische Bluse mit blödem Stoff, die an mir klebt und am Rücken kratzt. Nie im Leben würde ich sonst so etwas anziehen, aber das gehört halt zu meinem Kostüm für die Rolle "Frisch gebackene Masterabsolventin auf der Suche nach einem Job – am besten irgendwas mit Medien".
Die Tür geht auf, ich werde hineingebeten. Spotlight on me – es geht los. Ich bin nervös. Von einem großen Tisch aus gucken mich vier Leute an. VIER. Ich werfe einen letzten, hilfesuchenden Blick in den tristen Flur und überlege kurz, ob ich einfach wieder umdrehe. Vier Leute. Müssen die nicht arbeiten oder so?
Alle stellen sich vor. Ich konzentriere mich auf meinen Händedruck: nicht zu fest, nicht zu lasch und auf jeden Fall den Augenkontakt halten; genau so, wie ich es damals bei diesem Bewerbungstraining an der Uni gelernt habe. "Sind Sie gut angekommen? Alles schnell gefunden?" –"Ja." Mist, Smalltalk war noch nie meine Stärke.
Die Chefin liest mir die Website des Unternehmens vor, ebenso wie die Stellenanzeige. Unnötig, habe beides bereits bis ins kleinste Detail studiert. Der Typ neben der Chefin sieht mir die ganze Zeit dabei zu, wie ich bei der Präsentation zusehe. Gar nicht unangenehm.
Dann geht das Verhör los: „Also Frau Lehmann, so viel zu uns. Dann erzählen Sie jetzt mal was von sich." Easy. Ich rattere den Text runter, den ich vorher einstudiert habe und greife dabei einige Punkte aus meinem Lebenslauf auf – aber Vorsicht, nicht zu viele; soll ja keine Wiederholung meiner Bewerbungsmappe werden, die der Personal-Typ aufgeschlagen vor sich hat.
Aus einem Nebenjob, den ich damals nach zwei Wochen gekündigt habe, wird ein dreimonatiges Praktikum und meine doch eher bescheidenen Spanisch-Skills, die sich auf „vamos a la playa“ beschränken, werden zu soliden Sprachkenntnissen. Das eine vergeudete Jahr an der Uni, als ich undurchdachter Weise angefangen habe, BWL zu studieren, lasse ich weg, und in meiner Freizeit betreibe ich plötzlich auch Sport.
Normalerweise lüge ich nicht. Im Vorstellungsgespräch machen das aber alle. So hab ichs schon damals in der Schule gelernt. Sie nennen es "sich ins beste Licht rücken", ich nenne es "lügen". Scheint aber ein gesellschaftlich akzeptiertes Lügen zu sein. Ist okay für mich.
Wir vergleichen kurz meine Kompetenzen mit den Anforderungen aus der Stellenanzeige. Alle Fragen, die mit „Können Sie denn auch...?“, „Haben Sie schon Erfahrung mit…?“ und „Könnten Sie sich auch vorstellen…?“ beginnen, beantworte ich provisorisch mit „Ja“. Beim letzten Vorstellungsgespräch habe ich den Fehler gemacht, ehrlich zu sein. Das passiert mir kein zweites Mal. Ich kann ja zur Not noch ein paar YouTube-Tutorials anschauen, bevor der Job losgeht.
„Frau Lehmann, das hier ist ja eine Stelle für kreative Leute. Können Sie sich denn trotzdem auch organisieren?“ Auf gar keinen Fall. „Auf jeden Fall, Organisation ist mir sehr wichtig!“ – „Wie organisieren Sie sich denn?“ Mhhh, wie organisieren sich organisierte Leute? Ich versuch’s mal: „Ja also, mein Terminkalender hilft mir dabei, den Überblick zu behalten und ToDo-Listen, die ich jeden Tag abhake, hab ich auch!“
„Was haben Sie denn für einen Terminkalender?“ Okay, er bleibt hartnäckig. Was für ein Terminkalender? Was will der jetzt genau wissen? „Naja, einen ganz normalen halt, mit Wochenübersicht, Platz für Notizen, ...“ – „Einen ANALOGEN KALENDER? Sie wollen bei uns ja im digitalen Bereich tätig sein; wieso haben Sie dann einen ANALOGEN KALENDER?“ Puh, will der mich aus der Reserve locken oder sowas? Stressfragen – darüber hab ich was bei "Karrierebibel" gelesen. Ich bleibe gelassen und erkläre ihm, dass mir haptische Elemente bei meiner Organisation helfen. Vielleicht sollte ich das auch in echt mal ausprobieren.
„Ich hätte auch noch eine Frage“ – der Typ ganz rechts – „Nun haben Sie uns ja schon erzählt, was sie alles gut können. Was können sie denn überhaupt nicht gut?“ Die Schwächen-Frage – der Klassiker. Ich weiß natürlich, wie’s läuft. Auf keinen Fall darf ich jetzt meine Schwächen aufzählen. Wäre ich ehrlich, müsste ich gestehen: „Es fällt mir schwer, den Fokus zu behalten und das mit der Organisation und dem Kalender und so war 'ne Lüge, ich bin echt mies in sowas“. Aber ich bin ja nicht bedeppert und erzähle stattdessen von meinem "nervigen, aber gerade noch akzeptablen Perfektionismusdrang" und einem "Ordnungstick".
„Dann Frau Lehmann, wollte ich noch fragen, ob es denn okay für Sie ist, dass Sie bei uns erstmal nur in Teilzeit arbeiten könnten?“ – „Ja, klar. Das find ich sogar gut.“ MIST. Tarnung aufgeflogen. Vier Augenpaare sehen mich skeptisch an. Die eine Frau, die bisher kein Wort gesagt hat, sieht zum ersten Mal hoch: „Wieso ist das GUT, wenn ich fragen darf?“ Ach toll, wie komm ich da jetzt wieder raus? Soll ich jetzt ehrlich sein und sagen, dass eine 40-Stunden-Woche in meinen Augen kein funktionierendes Konzept ist und ich meine Zeit wesentlich besser als in einem nach Kaffee riechenden Büro verbringen kann?
Ich rede irgendwas von flexiblen Arbeitszeiten und dass jüngere Generationen heutzutage andere Vorstellungen von der Arbeitswelt haben und merke ziemlich schnell: Ich hab' verkackt. Beim nächsten Bewerbungsgespräch muss meine Rolle sitzen.
Nach ewigen 40 Minuten ist das Gespräch beendet. „Danke Frau Lehmann, wir melden uns.“ Glaub ich ja null dran.
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Viele Vorstellungsgespräche sind heute nur noch eine Aneinanderreihung einstudierter Choreografien. Das Ganze ist ein Riesentheater. Bei so vielen steifen Regeln, so viel Druck, so viel „richtig“ und „falsch“, so viel „gut“ und „schlecht“, so viel Bewertung bleibt den Bewerber*innen fast nichts anderes übrig.
Vom Händedruck zu Beginn des Gespräches bis hin zum Smalltalk am Ende ist jeder Ablauf standardisiert und erprobt. Die meisten lernen bereits in der Schule, wie diese Odyssee funktioniert: Nimm das Wasser an, verschränk die Beine nicht, stell möglichst viele interessierte Fragen. Wir alle kennen die Regeln. Das Internet ist voll mit Websites, die erklären, was man wann zu sagen hat, auf welche Fragen man vorbereitet sein muss und wie man seine Körpersprache richtig einsetzt. Es gibt ganze Fragenkataloge mit Antwortmöglichkeiten zum Auswendiglernen. Leute, das ist doch kein Multiple-Choice-Test! Diese Art, Bewerbungsgespräche zu führen, mag eine Zeit lang gut funktioniert haben. Aber was bewirkt dieses ganze Frage-Antwort-Spiel, wenn das Meiste davon nur Show ist?
Hinzu kommt: Die meisten Bewerbungsgespräche haben per se schon einen unangenehmen Vibe. Kommunikation auf Augenhöhe findet hier jedenfalls nicht statt. Das Machtgefälle ist deutlich spürbar: Die eine Seite des Tisches stellt die Fragen und bewertet die Antworten, die andere Seite wird genauestens gescannt und versucht, abzuliefern. Antworten, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, wie etwa "Ich arbeite gern in Teilzeit, weil mir meine Freiheit sehr wichtig ist" können schnell zum Nachteil werden.
Es herrscht ein universeller Konsens darüber, dass man als Bewerber*in in solchen Gesprächen alles tut, um sich den Erwartungen der anderen Seite anzupassen. Noch nie im Leben habe ich irgendjemanden sagen hören "Sei einfach du selbst, dann kriegst du den Job schon." Menschen müssen sich verbiegen und eine Rolle spielen. Und wer nicht gut performt, der hat sein Hemd heute ganz umsonst gebügelt, denn Individualitäten haben keinen Platz am Tisch, sorry. Da sitzen ja auch schon vier Leute.
Wer in dieser durch und durch stressigen Situation aufgeregt ist, kann sein Potenzial nicht richtig zeigen. Vor allem introvertierten Menschen macht man hier wirklich keine Freude. Arbeitgeber*innen stellen dann oft die ein, die sich super präsentiert haben, aber nicht immer sind die mit dem größten Darstellungsgeschick auch am besten für die Stelle geeignet. Es steht 50:50, dass diese Gleichung aufgeht. Leute mit viel Potenzial werden übersehen. Vielleicht ist es an der Zeit, Bewerbungsgespräche neu zu denken.
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