In einer Welt voller Extravertierter haben es Introvertierte nicht leicht. Vor allem im Beruf müssen sie sich meist verbiegen und anpassen, um mitzuhalten. Schade, denn das ist eigentlich weder fair noch notwendig.
„Wenn Du nicht weißt,
was ein Extravertierter denkt,
hast Du nicht zugehört.
Wenn Du nicht weißt,
was ein Introvertierter denkt,
hast Du nicht nachgefragt."
Jack Falt
Menschen sind verschieden. Die einen lieben Gesellschaft, die anderen Alleinsamkeit. Einige reden viel, andere hören lieber zu. Die psychischen Strukturen, denen diese Unterschiede zugrunde liegen, sind nicht nur sozial und kulturell geprägt, sondern darüber hinaus auch teilweise genetisch in uns verankert. Eines dieser Merkmale, die uns von Geburt an innewohnen, steht in der Persönlichkeitspsychologie schon seit Jahrzehnten im Fokus: Die bipolare Unterteilung Introversion/Extraversion. Bedeutet: alle Menschen sind von Natur aus entweder eher intro- oder extravertiert*(1).
Sich diese Eigenschaften nun aber schwarz/weiß vorzustellen, wäre nicht korrekt. In der Regel ist niemand zu 100 % extravertiert oder introvertiert. Diese beiden Merkmale bilden viel mehr die gegenüberliegenden Pole einer Skala, auf der es etliche Grautöne gibt. Und jeder von uns verortet sich irgendwo auf dieser Skala. Wer sich eher in Richtung introvertiert bewegt, hat trotzdem extravertierte Anteile in sich und umgekehrt.
In der Mitte zwischen Intro- und Extraversion steht die Ambiversion. Hier befinden sie alle, die beides, also Intro- und Extraversion, zu gleichen Teilen ausgebildet haben.
Extrovertierte sind wahre Meister*innen der Kommunikation. Sie sind gesprächig und haben nichts dagegen, in größeren Runden das Wort zu ergreifen und alle Augen auf sich zu ziehen. Sie reden oft lauter und schneller als ihre introvertierten Zuhörer*innen, sind außerdem spontan und scheuen sich nicht davor, einfach zu reden, ohne nachzudenken. Viele Extrovertierte sind auch sogenannte "Sprechdenker*innen", d.h. sie bevorzugen den Dialog mit anderen, um sich durch spontanes Reden über ihre eigenen Gedanken und Meinungen klar zu werden.
Introvertierte ticken da anders. Sie mögen es nicht, Gedankenimpulse einfach laut auszusprechen, ohne sich vorher die Zeit zu nehmen, zunächst selbst darüber nachzudenken. Bis sie ihre Gedanken sortiert haben, sind ihre extrovertierten Gesprächspartner*innen oft schon beim nächsten Thema. Da es Introvertierten schwer fällt, vor vielen Menschen zu reden, bevorzugen sie zudem meist Einzelgespräche oder kleinere Runden. Sie reden leiser und langsamer und ergreifen seltener das Wort*(2).
Extrovertierte kommen in der Gesellschaft anderer erst richtig in Fahrt. Aus der Interaktion mit ihrer Umwelt ziehen sie ihre Energie. Introvertierte wiederum fühlen sich durch die Interaktion mit anderen schneller entkräftet – auch wenn sie die Zeit mit ihren Mitmenschen wirklich genießen. Ihre Batterien laden sie dann aber doch lieber alleine oder mit wenigen engen Bezugspersonen in einer ruhigen Umgebung auf.
Aber nochmal: Es gibt etliche Mischformen. Das hier ist nur eine Skizze von Extremen.
Einer der zentralen Unterschiede zwischen intro- und extrovertierten Menschen liegt im Umgang mit äußeren Reizen. Extrovertierte lieben es, von vielen Reizen umgeben zu sein. Sie brauchen ein bestimmtes Maß an Stimuli, um sich wohlzufühlen und zu funktionieren. Introvertierte hingegen fühlen sich von zu vielen äußeren Reizen überwältigt. Sie haben daher ein natürliches Bedürfnis, Reizüberflutungen aus dem Weg zu gehen*(3).
Das liegt daran, dass Introvertierte bereits über ein ausreichendes Maß innerer Anregung verfügen. Ihr Gehirn produziert auch im entspannten Zustand genügend Reize, sodass sie sich weniger nach außen wenden und ihren Fokus stattdessen eher nach Innen, also in die eigene Gedanken- und Gefühlswelt richten. Zusätzliche Reize von Außen sind für Introvertierte oft zu viel. Extrovertierten hingegen mangelt es natürlicherweise an inneren Reizen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich daher eher nach außen – also dahin, wo die Reize zu finden sind*(4).
Forschungen haben außerdem gezeigt, dass Introvertierte in den Hirnregionen für Erinnerung, Problemlösung und Planung mehr Aktivität und eine bessere Durchblutung zeigen als extrovertierte Menschen. Diese allerdings weisen erhöhte Aktivität in bestimmten Teilen des Gehirns auf, die für sensorische Prozesse zuständig sind*(5).
Neuronale Unterschiede sorgen also dafür, dass Extrovertierte die Fähigkeit haben, schneller zu denken und zu reagieren, während der Denkprozess Introvertierter längere Wege durchläuft und mehr Informationen miteinbezieht.
Im Job sind es vor allem die extrovertierten Mitarbeiter*innen, die gerne socializen. Sie tauschen sich mit ihren Kolleg*innen über ihre Projekte und Ideen aus und arbeiten am effektivsten in Gesellschaft. Sie lieben Meetings, Brainstormings und gemeinsame Arbeitssessions, denn dies ist für sie die ideale Gelegenheit, durch impulsives Aussprechen von Gedanken zu genialen Einfällen zu kommen. Sie bevorzugen es außerdem, sich an mehreren Aufgaben und Aktivitäten zu beteiligen, ansonsten kann es nämlich schnell mal langweilig werden.
Introvertierte hingegen fokussieren sich lieber auf eine komplexe oder wenige Aufgaben gleichzeitig. Für den perfekten Arbeitsflow brauchen sie Ruhe. Lässt man ihnen diesen Raum, produzieren sie grandiose Ergebnisse. In Meetings vor mehreren Leuten zu reden, fällt ihnen oft schwer. Hier melden sie sich nicht allzu oft zu Wort, da sie mehr Zeit brauchen, um über Ideen und Einfälle nachzudenken. Sie arbeiten daher auch gerne allein und connecten sich in Pausen weniger mit anderen als Extrovertierte*(6).
Nun gibt es im Internet haufenweise Artikel und Blogeinträge à la "Wie Du als Introvertierter extrovertierter werden kannst". Was für ein Blödsinn. Ob jemand introvertiert oder extrovertiert ist, kann man sich nicht aussuchen. Extroversion ist keine Jacke, die man sich überziehen kann, nachdem man lange für sie gespart hat.
Verwundern tut es allerdings nicht, dass die Nachfrage nach solchen "Anleitungen" gar nicht so gering zu sein scheint. Schließlich leben wir in einer Welt, die von Extrovertierten dominiert wird. Seit der westlichen Industrialisierung und dem damit einhergehenden Wertewandel haben hier die Lauten das Sagen*(7). Selbstvermarktung ist das A und O. Die Menschen sollen unterhalten, faszinieren, mitreißen. Da gehen Introvertierte schnell unter. Bedächtigkeit und Zurückhaltung sind leider nicht sexy genug, sorry.
Vor allem im Job wird es den Introvertierten nicht einfach gemacht. Gesucht werden meist Fachkräfte mit extrovertierten Eigenschaften. Aufgeschlossene, kommunikative und charismatische Menschen, die es verstehen, sich zu präsentieren. Auf den Mund gefallen sollen sie nicht sein, in Meetings sollten sie regelmäßig ein paar coole Ideen droppen und für den letzten Skiurlaub des Chefs sollen sie sich auch interessieren. Einen guten Vibe sollen sie verbreiten und überzeugend müssen sie sein.
Tja, Pech für alle Introvertierten, die durch eine Sache benachteilt sind, auf die sie keinen Einfluss haben. Es ist ja nicht so, als hätten sie nichts zu bieten, ganz im Gegenteil. Während Extrovertierte erstklassig darin sind, sich zu vernetzen, schnell zu handeln und für Ideen zu begeistern, sind Introvertierte oft die besseren Zuhörer*innen und Beobachter*innen. Sie durchdenken ihre Ideen gut, können sich oft länger konzentrieren und haben einen analytischen Blick auf die Dinge.
Introvertierte Menschen haben genauso viele wertvolle Eigenschaften und Kompetenzen wie ihre extrovertierten Kolleg*innen. Leider gehen diese meist unter. Im Rampenlicht stehen immer die, die es verstehen, ihre Fähigkeiten und Leistungen zur Schau zu stellen. Da dies einfach nicht in der Natur Introvertierter liegt, haben diese hier einen klaren Nachteil.
Und als ob das nicht reichen würde, zwängen wir ihnen auch noch Strukturen auf, die es ihnen erheblich erschweren, sich bei der Arbeit wohlzufühlen. Unternehmensstrukturen und -kulturen sind meist wie für Extrovertierte geschaffen: Teamwork, Meetings, Großraumbüros, Brainstormings und Präsentationen – der absolute Horror für Introvertierte.
Der Ruf nach Diversity ist groß. In den Personalabteilungen tut sich immer mehr. Es wird einiges an Zeit und Mitteln investiert, um vielfältige Leute mit neuen Ideen und verschiedenen Fähigkeiten ins Team zu holen. Erwartet wird dann aber doch immer, dass genau die Leute, die man wegen ihrer Einzigartigkeit eingestellt hat, sich verbiegen und anpassen. Schade, denn nie war die Notwendigkeit eines divers aufgestellten Teams größer als heute.
Untersuchungen zu den Erfolgsfaktoren erfolgreicher Teams haben ergeben, dass die erfolgreichsten Unternehmen es verstanden haben, die unterschiedlichsten Leute mit den unterschiedlichsten Stärken, Kompetenzen und Verhaltensweisen einzustellen*(6). Ein rein extrovertiertes Team macht bestimmt Spaß. Für langfristigen Erfolg sind introvertierte Skills aber dringend notwendig.
Führungskräfte dürfen den Blick für die Persönlichkeitsmerkmale und Bedürfnisse ihrer Angestellten schärfen und dafür sorgen, dass ihre introvertierten Mitarbeiter*innen nicht untergehen, sondern sich im Unternehmen entfalten können. Und wenn sie dafür andere Umstände brauchen als der Rest des Teams, ist das doch eigentlich auch okay, oder?
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*(1) vgl. Jung, Carl Gustav (2019): Typologie. Ostfildern: Patmos Verlag.
*(2) vgl. Hertlein, Margit (2019): Ach, was Sie nicht sagen. In: CNE Pflegemanagement 2019; 04: 12–13.
*(3) vgl. Freund, Dirk (2013): Wertschöpfende und innovationsorientierte Unternehmensführung. Berlin Heidelberg: Springer.
*(4) vgl. Roemer, Cordula (2021): Abenteuerlustig & Hochsensibel. Wie Sie als extravertierterHochsensibler gut leben können. Wiesbaden: Springer.
*(5) vgl. University of lowa (1999): Brain Activity Differs In Introverts And Extroverts, UI Study Shows.
*(6) vgl. Wagner, Hartmut: Was macht Teamarbeit erfolgreich? Das Team Management System (TMS) von Charles Margerison und Dick McCann.
*(7) vgl. Cain, Susan (2013): Still. Die Kraft der Introvertierten. München: Goldmann Verlag.
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